Flood the Zone mit Bullshit – oder warum wir endlich zeitversetzte TV-Duelle brauchen. Gestern Abend also: das erste große Kanzler:innen-Duell. Vier Kandidat:innen, die sich um das wichtigste Amt im Land bewerben, live im Fernsehen, ungeschnitten, unkommentiert. Und direkt im Anschluss das übliche Spiel: Social Media voll mit Entrüstung, Memes und Jubelrufen – aber kaum Zeit für einen echten Faktencheck.
Warum eigentlich? Warum tun wir uns das immer wieder an? Die Technik macht’s möglich, doch wir tun so, als sei „Live“ das höchste Gut. Dabei wäre eine Lösung so einfach: Zeichnet die Diskussion auf, lasst ein Team von Faktenchecker:innen drübergehen, blendet Korrekturen ein und strahlt das Ganze zwei, drei Stunden später aus. Voilà – ein Wahlkampf, in dem zumindest der dreisteste Unsinn nicht unwidersprochen bleibt.
Aber nein, stattdessen erleben wir das immer gleiche Muster. Und dieses Muster folgt einer Strategie, die Populisten weltweit perfektioniert haben:
Flood the Zone with Shit
Steve Bannon, der ehemalige Trump-Berater, brachte es auf den Punkt: „Flood the Zone with Shit“. Das bedeutet, den öffentlichen Diskurs mit so vielen falschen, verdrehten oder irreführenden Aussagen zu überfluten, dass niemand mehr hinterherkommt. Statt über Inhalte zu diskutieren, müssen Journalist:innen ständig widerlegen, nachrecherchieren, einordnen – und sind trotzdem immer einen Schritt zu spät.
Was passiert also nach so einem TV-Duell?
• Irgendein Kandidat haut eine steile These raus („Deutschland hat die höchsten Steuern weltweit!“ – Spoiler: hat es nicht).
• Die ersten Twitter-Accounts feuern die Aussage raus, Zehntausende liken und teilen.
• Journalist:innen und Faktenchecker:innen brauchen Zeit, um die Zahl richtigzustellen.
• Die Korrektur bekommt dann nur noch einen Bruchteil der Aufmerksamkeit.
Das Ziel dieser Strategie ist nicht, eine echte Debatte zu führen, sondern Zweifel zu säen, Verwirrung zu stiften und Menschen glauben zu lassen, dass eh alle lügen.
Whataboutism & False Balance – oder das ewige „Aber was ist mit…?“ Ein weiteres beliebtes Spiel: Wenn es um kritische Fragen geht, kommt sofort ein „Aber was ist mit…?“ – ein Ablenkungsmanöver, das jede Diskussion ins Leere laufen lässt. Beispiel: Jemand spricht über Rechtsradikalismus, und die Antwort ist „Aber die Antifa!“. Plötzlich geht es nicht mehr um das ursprüngliche Thema, sondern um einen künstlich geschaffenen „Gegensatz“, der die Kritik relativiert.
Gleichzeitig sehen wir die Strategie der False Balance: Als ob jede Meinung gleich viel wert sei – egal ob wissenschaftlich belegt oder kompletter Unsinn. So werden Klimawandel-Leugner:innen, Impfgegner:innen und Rechtspopulisten oft in Talkshows eingeladen, als wären sie eine legitime Gegenseite zur Wissenschaft.
Warum ändert sich nichts? Weil das Chaos für einige ein Vorteil ist. Weil es Medienquoten bringt. Weil eine klare, unaufgeregte Debatte über Fakten weniger unterhaltsam ist als Streit. Und weil eine verunsicherte, überforderte Gesellschaft anfälliger für Populismus ist.
Die Lösung?
• Kein Live-TV-Duell mehr ohne Faktencheck. Zwei, drei Stunden Zeitverzögerung schaden niemandem – außer denen, die auf Lügen setzen.
• Verantwortung der Medien. Keine Plattform mehr für bewusst falsche Behauptungen, keine False Balance für eindeutige Fakten.
• Mehr Medienkompetenz. Wir alle müssen lernen, Bullshit als solchen zu erkennen – und nicht jede steile These für bare Münze zu nehmen.
Bis dahin bleibt nur: selbst nachdenken, Quellen checken, und sich nicht für dumm verkaufen lassen.
Hier sind 15 Taktiken, mit denen Populisten den Diskurs manipulieren. Eine kurze übersichtliche Liste mit typischen Taktiken, die sie nutzen:
1. Flood the Zone with Shit
• Ein Begriff von Steve Bannon: Überflutung des öffentlichen Diskurses mit falschen, irreführenden oder irrelevanten Informationen, um Verwirrung zu stiften und kritische Debatten zu ersticken.
2. Whataboutism (Ablenkung durch Gegenfragen)
• Kritik wird nicht direkt beantwortet, sondern mit einer Gegenfrage oder einem anderen Thema abgelenkt („Aber was ist mit…?“).
3. False Balance (Falsche Ausgewogenheit)
• Extrempositionen werden als gleichwertige Alternative zu etablierten Fakten oder Wissenschaft dargestellt, um den Eindruck zu erwecken, dass es zwei legitime Seiten gibt.
4. Strohmann-Argumente
• Die Position des Gegners wird verzerrt oder übertrieben dargestellt, um sie leichter angreifen zu können.
5. Opferrolle und Märtyrer-Narrativ
• Populisten stellen sich als Opfer von „Eliten“, „der Presse“ oder „dem Establishment“ dar, um Sympathie zu erzeugen und Kritik als unfair abzuwehren.
6. Dog-Whistle Politics (Codierte Botschaften)
• Aussagen, die für die allgemeine Öffentlichkeit harmlos klingen, aber für eine bestimmte Zielgruppe (z. B. rechte Extremisten) eine versteckte Bedeutung haben.
7. Overton Window Shifting (Verschiebung des Sagbaren)
• Extreme Positionen werden bewusst geäußert, um die Grenzen des gesellschaftlich Akzeptierten zu verschieben und radikale Ideen salonfähig zu machen.
8. Gaslighting (Realitätsverzerrung)
• Wiederholtes Leugnen oder Verdrehen von Fakten, um Menschen zu verunsichern und ihre Wahrnehmung der Realität zu manipulieren.
9. Feindbild-Konstruktion
• Klare „Wir gegen die“-Rhetorik, in der bestimmte Gruppen (z. B. Migranten, Medien, Wissenschaftler) als Bedrohung oder Sündenböcke dargestellt werden.
10. Emotion statt Fakten
• Anstatt mit logischen Argumenten zu überzeugen, setzen Populisten auf Angst, Wut oder nationale Identität, um Anhänger zu mobilisieren.
11. Redefinition von Begriffen
• Wichtige Begriffe werden umgedeutet, um sie propagandistisch zu nutzen (z. B. „Lügenpresse“ für kritische Medien, „Volksverräter“ für politische Gegner).
12. Dauerempörung und künstliche Skandalisierung
• Ständige Empörung über erfundene oder aufgebauschte Themen, um Aufmerksamkeit zu generieren und die eigene Basis zu mobilisieren.
13. Anti-Intellektualismus
• Ablehnung von Expertenwissen und Wissenschaft zugunsten von „gesunden Menschenverstand“ oder „Bauchgefühl“.
14. Framing & Sprachkontrolle
• Durch geschickte Wortwahl (z. B. „Asylflut“, „Gender-Wahn“) werden Debatten von Anfang an in eine gewünschte Richtung gelenkt.
15. Selbstwiderspruch als Strategie
• Populisten sagen oft bewusst widersprüchliche Dinge, um verschiedene Zielgruppen gleichzeitig anzusprechen oder Verwirrung zu stiften.